Buxtehuder Tageblatt, 4.5.2018
Nächtlicher Polizeieinsatz bei Flüchtlingen wirft Fragen auf
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LANDKREIS. Was geschah in der Nacht zu Donnerstag tatsächlich in Hedendorf? Dass um kurz vor 1 Uhr 20 Bundespolizisten eine irakische Familie mit fünf Kindern zur Ausreise abholen wollten, ist unbestritten. Dass die Aktion abgebrochen werden musste auch. Doch was danach passierte, ist umstritten.
Polizei und Kreis-Verwaltungsmitarbeiter waren abgezogen, weil alle sich angeblich beruhigt hätten. Doch nur zehn Minuten später gab es einen Großeinsatz von Notärzten und Sanitätern. Drei Iraker wurden ins Krankenhaus eingeliefert. Aber wieso gab es überhaupt einen nächtlichen Polizeieinsatz zur Abschiebung von Familien mit kleinen Kindern?
Der Fall: Zwei Familien mit jeweils fünf Kindern im Alter zwischen zwei und zwölf Jahren sind im August 2014 aus dem Irak geflüchtet, nachdem die Terrororganisation IS die Macht und Kontrolle in ihrer Region übernommen hatte. Beide Familien, die verwandtschaftlich verbunden sind, flohen vor Erschießungen, Plünderungen, Verschleppungen und Zerstörungen der Milizen in die benachbarte Gebirgsregion. Dort gebar eine der Frauen ihr fünftes Kind Sakina, geschlafen wurde weitgehend in Wäldern und auf der Straße.
Zwei Tage nach der Geburt begann eine abenteuerliche Flucht nach Syrien und weiter in die Türkei, dann über das Mittelmeer. Im Februar 2016, nach eineinhalb Jahren auf der Flucht, erreichten die 14 Menschen Griechenland. Nach weiteren eineinhalb Jahren wurden sie gemäß der EU-Flüchtlingspolitik nach Portugal umgesiedelt. Weil sie dort nach eigenen Angaben bedroht wurden, setzten sie die Flucht fort: über Spanien, Frankreich nach Dortmund und später nach Buxtehude. In den Holzhäusern am Sportplatz in Hedendorf wurden sie seither von Anwohnern und Flüchtlings-Helferinnen betreut.
Nach der Gesetzeslage können die Familien nicht in Deutschland bleiben. Die Dublin-Verordnung regelt, welcher Staat für die Bearbeitung eines Asylantrags innerhalb der EU zuständig ist. So soll sichergestellt werden, dass ein Antrag innerhalb der EU nur einmal geprüft werden muss. Ein Flüchtling muss in dem Staat um Asyl bitten, in dem er den EU-Raum erstmals betreten hat.
In diesem Fall ist das Portugal, weil Griechenland anderen Voraussetzungen unterliegt. Demnach sollten beide Familien nach Portugal zurückgehen – freiwillig oder gezwungenermaßen.
Der Einsatz: „Für mich ist unbegreiflich, dass Flüchtlingen mit kleinen Kindern mit schlimmsten Erfahrungen aus den letzten Lebens- und Fluchtjahren in dieser Weise zusätzliches, unerträgliches Leid zugefügt wird. Ich bin entsetzt, dass solche Dinge bei uns in Deutschland passieren“, schreibt Dieter Kröger, Grünen-Politiker und früher Leiter des Gymnasiums Süd in Buxtehude, der in der Nacht zu Donnerstag als einer der ersten Flüchtlingsbetreuer vor Ort war.
Kröger kam kurz nach dem gescheiterten Polizeieinsatz, der nach Angaben von Landkreis-Dezernentin Nicole Streitz so verlaufen ist: „Der Überstellungsversuch wurde nach nur elf Minuten durch die Kreisverwaltung in Absprache mit der Landesaufnahmebehörde abgebrochen. Hintergrund für die Entscheidung war, dass sich neben Frau M. auch zwei ihrer Kinder sehr stark aufregten. Trotz des anwesenden Arztes, der die gesamte Maßnahme auf Veranlassung der Kreisverwaltung mit Blick auf die Verfassung von Frau M. begleitete und der auch die Reise bis nach Portugal begleitet hätte, war aus Sicht der Anwesenden höchst zweifelhaft, ob der Flug hätte erfolgreich durchgeführt werden können. Mit Abbruch der Maßnahme um 1.15 Uhr und dem Verlassen der Wohnung beruhigte sich die Situation deutlich. Sicherheitshalber blieben die Einsatzkräfte inklusive Arzt noch einige Minuten vor Ort, wobei sich die Situation hörbar weiter beruhigte.“ Wieso es nach Abbruch der Maßnahme zum Notarzt-Einsatz kam, ist für die Kreisverwaltung nicht nachvollziehbar.
Die Folgen: Das schildert die Lehrerin Julia Beier, die als Flüchtlingsbetreuerin aktiv ist, so: „Ich wurde kurz nach 1 Uhr angerufen und bin gemeinsam mit Rettungssanitätern bei der Familie eingetroffen. Beide Mütter und ein Sohn sind nicht ansprechbar gewesen, haben nicht reagiert. Offenbar waren alle drei hyperventiliert und in Panik. Die Sanitäter orderten einen Notarzt, weitere zwei Rettungswagen trafen später ein, alle drei wurden ins Stader Krankenhaus gebracht.“ Kröger berichtet: „Ich habe mich um den Sohn Raad gekümmert, der völlig weggetreten und bis zum Abtransport mit dem Rettungswagen in keiner Weise ansprechbar war.“
Die Reaktionen: Schon wenige Stunden nach der großen Aufregung um die nächtlichen Ereignisse in Hedendorf war klar, dass dieser Fall politisch hohe Wellen schlagen wird, weil er die gesamte Flüchtlings-Problematik betrifft und zudem überrascht, weil es nächtliche Abschiebungen im Landkreis für Familien mit Kindern nicht mehr geben sollte. Das hatte der Kreisausschuss als Konsequenz einer spektakulären Abschiebung 2012 beschlossen.
Die Problematik: Für beide Mütter liegen die Atteste einer Buxtehuder Psychologin vor, die feststellt: „…die Bilder der Kämpfe und der zahlreichen Toten haben sich tief in die Erinnerung eingefräst und in der Klientin eine schwere seelische Verletzung, ein sogenanntes Trauma, ausgelöst. Die Symptomatik im Einzelnen besteht jetzt aus Angst- und Schmerzzuständen, Bluthochdruck, Herzrasen, Schlaflosigkeit … Frau … ist aus psychotherapeutischer Sicht dringend behandlungsbedürftig, nicht reisefähig und muss langfristig und regelmäßig psychotherapeutisch weiterbehandelt werden, um ihre traumatischen Erlebnisse verarbeiten zu können.“
Die Rechtslage: In einem Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück, in dem ein Eilrechtsschutz zur Ausreise dieser Familie ausdrücklich abgelehnt wurde, heißt es, dass es nicht nachvollziehbar sei, „warum eine Familie, die eine mehrjährige Flucht über Türkei, Griechenland, Portugal nach Deutschland bewältigt hat, nicht nach Portugal zurückkehren könne – obwohl sie in Portugal, einem Mitgliedsland der EU – auch sicher vor Verfolgung waren und sind.“
Diese Argumentation des Verwaltungsgerichtes „macht sich die Kreisverwaltung ausdrücklich zu eigen“, schreibt Landkreis-Dezernentin Streitz. Sie habe alles versucht, um die beiden Familien zur freiwilligen Ausreise zu veranlassen, was aber gescheitert sei. Streitz: „Aufgabe der Kreisverwaltung war und ist es, die Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge umzusetzen. Zunächst wurde die Familie über die Möglichkeit zur freiwilligen Reise nach Portugal oder in den Irak informiert. Zum Jahresanfang hat die Familie M. dann zunächst eine freiwillige Ausreise in ihr Heimatland Irak angekündigt. Einen Monat später wurde aber mitgeteilt, dass sie weder in ihr Heimatland noch in den für das Asyl zuständigen Staat Portugal reisen wollten. Daraufhin wurde durch die Kreisverwaltung die Überstellung nach Portugal eingeleitet und darüber die Familie informiert sowie weitere Vorbereitungen getroffen.“
Vor Ostern habe die Kreisverwaltung zu einer größeren Gesprächsrunde mit der Familie, Dolmetscher und Ehrenamtlichen geladen. Dabei sei durch die Kreisverwaltung nochmals die Möglichkeit zu einer freiwilligen Ausreise nach Portugal, explizit mit dem Hinweis auf die vermeidbare Belastung der Kinder, angeboten worden.
Streitz: „Nach einer mehrtägigen Bedenkzeit wurde das Angebot aber bedauerlicherweise ausgeschlagen.“ Für die vorgesehene Überführung (nicht Abschiebung) seien die Landesaufnahmebehörde und die Bundespolizei zuständig, der Landkreis begleite das Vorgehen nur.
Die Vorgeschichte: Als Konsequenz der spektakulären Abschiebung einer Familie mit kleinen Kindern aus Fredenbeck in den Kosovo hatte sich im September 2012 eine klare Mehrheit im Kreistag dafür ausgesprochen, dass es nächtliche Abschiebungen im Landkreis Stade nicht mehr geben soll. Dies entsprach später auch der Linie der neuen SPD-Grünen-Koalition in Niedersachsen: „Auf Abschiebungen am Wochenende, in der Nacht und in den frühen Morgenstunden soll verzichtet werden“, sagte der damalige und auch heutige Innenminister Boris Pistorius (SPD).
Dass es dennoch auch im Kreis Stade zu nächtlichen Abschiebungen gekommen sei, habe die Kreisverwaltung nicht zu verantworten, sagt Streitz. Sie kennt aber die Gründe: Insbesondere in Dublin-Fällen bestimme ausschließlich der aufnehmende Staat, zu welchem Zeitpunkt und an welchem Ort, die betroffenen Ausländerinnen und Ausländer übergeben werden sollen.
In der Regel fänden Flugüberstellungen in Linienmaschinen ohne Zwischenlandungen statt, wobei nicht alle Fluggesellschaften von jedem Flughafen aus bereit seien, an Überstellungen mitzuwirken. Das aufnehmende Land bestimme den Zeitpunkt, und deshalb könne es dazu kommen, dass Überstellungen oder Abschiebungen von Familien auch zu nächtlichen Zeiten beginnen.
Die Konsequenzen: Nach inoffiziellen Informationen geht es den drei in die Stader Klinik gebrachten Familienmitgliedern wieder besser. Nach der Argumentation der Kreisverwaltung gebe es nur den einen Weg: „Es ist Aufgabe der Kreisverwaltung, die Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Asylverfahren vor Ort umzusetzen“, sagt Streitz.
Die Bürgerinitiative Menschenwürde sieht dies anders und argumentiert mit dem Gesundheitszustand der Betroffenen, eine Ausreise sei demnach nicht möglich. Auch Flüchtlings-Betreuer aus Hedendorf, die nicht zur Bürgerinitiative gehören, beschreiben den Gesundheitszustand der Mütter (eine von ihnen ist schwanger) als besonders schlimm.
Am Ende dieser Problematik steht: Sollte die vorgesehene Frist nach dem Dublin-Abkommen ohne Ausreise nach Portugal verstreichen, dürften die Familien Asyl in Deutschland beantragen. Genau das wollen sie.